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Wer lernen will, muss sich sicher fühlen

Lernen gelingt nur, wenn das autonome Nervensystem Sicherheit meldet

Wer lernen will, muss sich sicher fühlen

Eine Lösungssuche, also Lernen, kann nur dann ungestört ablaufen und zu Lernen verhelfen, wenn das gesamte Nervensystem und damit der gesamte Körper sich in einem Zustand der Sicherheit befinden. Das Wiederherstellen von Sicherheit ist überlebensnotwendig für Säugetiere, damit es nicht zu der in den vergangenen Folgen beschriebenen dauerhaften Aktivierung der Stress-Achse mit den entsprechenden Folgen kommt. Erst, wenn das Nervensystem Sicherheit erkennt, kann die sympathische Aktivität so weit herunter reguliert werden, dass Regeneration und soziale Interaktion wieder möglich werden, für uns Menschen als Säugetiere überlebensnotwendige Prozesse.

Das Sicherheitsgefühl und die möglichen sozialen Interaktion bei Sicherheit wurde von Stephen Porges untersucht. Er entwickelte das Polyvagalkonzept. Die Polyvagaltheorie (PVT) erklärt, wie Gefahr und Bedrohung den inneren physiologischen Zustand von Säugetieren so beeinflussen, dass er Verteidigungsverhalten (die Kampf-Flucht-Reaktion) hervorruft sowie dass das subjektive Gefühl von Sicherheit von spezifischen Signalen aus der Umgebung abhängig ist.

Schauen wir uns zunächst das Verteidigungsverhalten an. Das Aufmerksamkeitssystem über eingehende Störungen und reagiert auf Meldungen der Gefahr mit Verteidigungsverhalten. Ursprünglich war das in der Evolution bis zu den Reptilien hin eine Erstarrungsreaktion, der sogenannte Totstellreflex, der vom parasympathischen Nervensystem ausgelöst wurde. Mit dieser Erstarrung geht eine drastische Reduktion der Atmung und aller wichtigen Körperfunktionen einher. Reptilien können bei Gefahr Stunden unter Wasser sein, ohne zu atmen. Da sie noch ein kleines Gehirn haben, welches wenig Sauerstoff braucht, ist diese Strategie für sie ausreichend. Der für diese Reaktion zuständige Teil des vegetativen parasympathischen Systems ist ein Teil des Vagusnervs des Hirnstammes.

Dieser alte Totstellreflex der Reptilien steht jedoch immer noch auch uns als Säugetieren für absolute Notfallreaktionen zur Verfügung. Er führt bei der Erstarrung bzw. Totstellreaktion zu stark sinkendem Herzschlag, Blutdruck, Atmung und Muskeltonus, eventuell sogar zur Ohnmacht. Es ist eine potentiell tödliche Reaktion, wenn sie zu lange dauert. Eine Erstarrung wird z.B. bei Mäusen ausgelöst, wenn eine Katze sie gefangen hat und sie nicht mehr davonlaufen können.

Erst später in der Evolution entstand ein anderes Reaktionssystem, die uns bereits bekannte Kampf –und Fluchtreaktion, vermittelt durch das sympathische Nervensystem des Hirnstamms. Hierbei erfolgt eine hohe Aktivierung aller notwendigen Stoffwechselvorgänge, wie oben bereits beschrieben. Damit erweiterte sich in der Evolution die Bandbreite möglicher rascher Reaktionen auf Gefahr.

Noch später innerhalb der Evolution entwickelten die Säugetiere zusätzlich ein neueres System, welches nicht primär zur Verteidigung, aber zur Einschätzung der Sicherheitslage dient. Es erlaubt bei Sicherheit ein sehr feines gegenseitiges Abstimmen von sympathischer (Erregung) und parasympathischer (Entspannung) Aktivierung. Lernen, Erkundung sowie Spiel sind nur im Zustand der Sicherheit möglich, weil dann das sympathische Nervensystem zwar etwas aktiviert ist, aber in einem mittleren Erregungsniveau ist, ohne in die Kampf-Flucht-Reaktion zu verfallen.

Die Entstehung des dritten, evolutionär neuen, parasympathischen Vagussystems für Sicherheit war eine der entscheidenden Voraussetzungen für die hohe Lern- und Anpassungsfähigkeit der Säugetiere. Dieser Nerv hat neuronale Verbindungen zwischen der Herzregulation und den Gesichtsnerven. Er ermöglicht Säugetieren damit, die Erregung oder Entspannung des Herzens im Gesicht auszudrücken und umgekehrt eine Beruhigung des eigenen Herzens und durch Spiegeln des Gesichtsausdruckes eines Gegenübers.

 

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